Montag, 4. März 2013

Zwille und Pazifismus

Samstag Abend, 20 Uhr, die gefürchtete Stunde naht, bis Montag Morgen wird mir der Zugang zu preiswerten Essensvorräten verwehrt sein. Da ich Hunger habe und der Kühlschrank durch Leere überzeugt, werde ich meinen Rückzugsort wohl oder übel verlassen müssen. 
Schlechtgelaunt zwänge ich mich in mehrere Lagen herumliegender Klamotten und begebe mich, kleingedrückt von äußeren Sachzwängen, in die Kälte. Es ist irrelevant, ob ich später, nachts dann, auf der Suche nach Ablenkung, Rausch oder Nähe kreisend die halbe Stadt durchwandern werde. Zu Zielen, die bedeutend weiter entfernt liegen als der Laden um die Ecke. Ich werde dies schließlich aus freien Stücken tun, freudig erwartend, hoffend, zuversichtlich. Der Gang in den Supermarkt dagegen ist mir in völlig übersteigerter Weise verhasst. Ich kann ihn nicht vermeiden, muss ihn antreten, kann mich seiner Notwendigkeit nicht widersetzen. Mir ist klar, ich könnte es mir einfacher machen, meine Gedankenkapazitäten für wichtigere, schönere, sinnvollere Überlegungen aufsparen, mich dem Notwendigen nicht nur fügen, sondern es willkommen heißen, ihm durch Nichtbeachtung seine unangenehme Wichtigkeit nehmen. Gelungen ist mir das bisher noch nicht. Vielleicht möchte ich ja gar nicht, dass es mir gelingt? Bieten so seltsam vertraute, nutzlose Gedanken Geborgenheit?
Gedankenkreiselnd schlurfe ich automatisiert und gesenkten Kopfes richtung Licht und bunter, grinsender Reklame. Drinnen angekommen, wird mein Gang bereits an der Gemüseecke gestoppt. Menschen stehen da und befingern fachmännisch prüfend die Obst- und Gemüsesorten ihrer potentiellen Wahl. Genervt über ihr fehlendes Raum-Platz-Gespür zwänge ich mich zwischen ihnen hindurch. Obst ist nicht, was ich benötige, mir genügen Nudeln und Fertigsoße, und vielleicht ein Vorratsbier. 
Am Geträngeregal treffe ich auf einen Mann undefinierbaren Alters, der dabei ist, leere Bierflaschen in den sanft vor sich hinstinkenden Pfandflaschenautomaten zu befördern und dabei leise summt. Ich kenne ihn vom Sehen, er ist sehr groß und sehr dünn, hat einen langen, krisseligen, schon etwas ergrauten Bart und immer ein farbiges Tuch in piratesker Weise um den Kopf gebunden. Da er nicht zu den anderen Menschen in diesem Viertel passt, ist er mir grundsätzlich sympatisch, und ich grüße ihn meist, wenn ich ihn treffe, was ihn zu freuen scheint, was wiederum mich freut. Heute ist mir nicht nach Reden zumute. Ich senke den Kopf und grabsche mir ein Bier, hoffend, dass er mich nicht erkennt. Promt ertönt ein freudiges "Hallo!" und ich hebe, solchermaßen zur Konversation gezwungen den Kopf und ringe mir ein erkennendes Grinsen ab.
"Hast du schonmal ein Gewehr in der Hand gehabt?" fragt er mich unvermittelt. Ich beschließe, da ich einem Gespräch nun nicht mehr entrinnen kann, ehrlich zu antworten und überlege. "Ja", sage ich schließlich, "ein Luftgewehr." 
"Siehst du!", sagt er triumphierend, "nicht mal das hab ich! Nur ne Zwille hatte ich als Kind mal, das ist alles!"
Ich beglückwünsche ihn zu seinem Pazifismus und wende mich, da er dem nichts mehr hinzufügt, flüchtig winkend zum Gehen. Ich hatte auch mal ne Zwille, aus einer Astgabel, starken Gummibändern und in ihrer Mitte einem Lederstück, mit dem die Steine gut festgehalten werden konnten. Mein Vater hat sie mit mir gemacht, als ich ein Kind war. Wo die wohl ist? Ich werde sie suchen! Beschwingt mache ich mich auf den Heimweg und freue mich, dass der Hippietyp mit dem Beweis seiner Friedfertigkeit bei mir unbeabsichtigterweise die Lust auf Klang und Anblick zerbrochener Scheiben und den Wunsch nach ein bisschen Chaos ausgelöst hat.

1 Kommentar:

  1. Fehlendes Raum-Platz-Gespür ist nicht pazifismusfördernd, aber es ist noch einmal gut gegangen ...

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